(Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Vor einiger Zeit wurde ich für ein Buch, das sich mit kreativem wissenschaftlichen Erzählen befasst, um ein Zitat gebeten. Ich habe das geschrieben:
Letzten Endes macht es für mich keinen Unterschied, welcher Gattung ein Text angehört, sei es ein Gedicht, ein Essay, eine Erzählung, sei es eine Reportage oder ein wissenschaftlicher Text, sei es ein Epos oder ein Sonettkranz, sei es ein historischer Roman oder Fan-Fiction – und es spielt mir auch keine Rolle, von wem der Text ist.
Ob der Text mir etwas sagt, ob ich ihn gut finde und für gelungen halte, hängt allein davon ab, ob ich ihm jeden einzelnen Satz glaube.
Schreiben ist auch Prahlen, Tricksen und Mogeln
Und damit habe ich mich natürlich mitten in die Diskussion über den Wahrheitsbegriff begeben. Als wäre der Beruf der Schriftstellerin nichts anderes als Beschönigen, Fantasieren, Verfälschen, Prahlen, Tricksen und Mogeln, als ginge es nicht darum, der Leser:innenschaft haufenweise Bären aufzubinden. Als wäre es nicht ein einziges Finden und Hinzuerfinden.
Oder, um es mit Nietzsche zu sagen: «Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (…).»
Natürlich ist es pure Hochstapelei, wenn ich Begriffe wie «Wahrheit» oder gar ein philosophisches Zitat in einen Text einstreue. Aber ich muss beim Schreiben für jeden einzelnen Text seine ihm eigene Wahrheit finden, und sei diese noch so erstunken und erlogen. Ich muss zuweilen, damit der Text in sich stimmt, Erinnerungen verdrehen, Tatsachen umstülpen.
Warum Figuren glaubhaft sein müssen
Beim Lesen wiederum muss mir eine Romanfigur glaubhaft vorkommen, in dem, was sie tut, denkt, sagt, und ein Gedicht darf noch so dissonant klingen, wenn es mir damit etwas vermittelt, was mehr ist als seine blosse Form.
Wenn das Gedicht sich nur reimt, zucke ich die Schultern, und wenn alles vorhersehbar ist, was der Romanfigur widerfährt, dünkt es mich wenig raffiniert, auch wenn sich das wirkliche Leben zumeist ja tatsächlich ganz unspektakulär abspielt.
Warum Autor und Hauptfigur nicht dasselbe sind
Aber ich kann einem Text, selbst wenn es sich darin um einen alten weissen Mann dreht, der sich aus lauter Selbstmitleid, dass er nicht Greta Thunberg ist, in seine Villa auf einer griechischen Insel zurückzieht, jedes einzelne Wort glauben, in diesem konkreten Fall sogar jeden einzelnen Satz abfeiern, gerade weil der Autor, der sich in diesem Text immer mal wieder zu erkennen gibt, so grundehrlich ist in der Ergründung seiner Lebenskrise, dass am Ende ein unfassbar grossartiger Text dabei herauskommt. Dass er, als Klimax gewissermassen, auf einem Schiffsdeck seinen eigenen Namen tanzt, das glaube ich dem Schriftsteller nicht, seinem Protagonisten aber sehr wohl.
Man kann als Schreibende also alles machen in einem Text, was man nur will, solange es Leser:innen gibt, die einem glauben mögen. In meinem vorherigen Beitrag hier in dieser Reihe etwa habe ich davon geschrieben, wie ich mit einer Freundin im nahen Stadtwald die Glühwürmchen besucht habe. Diesen Text habe ich all meinen Freundinnen, mit denen ich die Glühwürmchen besucht habe und die darin zu einer einzigen Freundin zusammengeschmolzen sind, geschickt.
Wahr und überprüfbar: Was Reportagen unterscheidet
Aber nicht mit jedem Text kann ich alles machen, nicht mit jeder Textsorte. Gerade bin ich daran, meine erste Reportage fertigzustellen. Ich habe dafür ein Jahr lang eine junge Frau besucht, die an einer chronischen Krankheit leidet. Da gibt es nichts zu erfinden, jedes Wort muss wahr und überprüfbar sein. Etwas hinzuzufügen oder wegzulassen wäre der jungen Frau gegenüber schlicht ein Hohn. Und eine Reportage erfordert es, dass man sie einem strengen Fakten-Check unterzieht, wenn man seriös arbeiten will.
Die Geschichte der jungen Frau bewegt mich auch über das Schreiben hinaus, ich habe mehrmals von ihr geträumt, und als ich in der intensivsten Schreibphase war, habe ich auch vom Text geträumt, davon, dass er sprachlich einiges zu wünschen übriglässt, weil es doch eine literarische Reportage werden soll. Im Traum bin ich in den Garten hinausgegangen, habe Kräuter geschnitten und sie dem Text hinzugefügt, und damit war ich zufrieden, und die Herausgeber:innen auch.
Erst träumen, dann schreiben
Ich habe der jungen Frau am nächsten Tag eine Nachricht geschickt, in der ich ihr von meinem Traum erzählt habe.
Was für Kräuter, fragte sie zurück, Rosmarin, Thymian und Salbei?
Ich erinnerte mich an Pfefferminze und Koriander.
Tabea Steiner, Autorin
ThurgauKultur